Anfang Juli 2020
Liebe Börsenfreunde,
eine meiner zentralen Erwartungen hat sich bisher nicht erfüllt. Während „Wachstumswerte“ wie Amazon oder Tesla gnadenlos weiter nach oben getrieben werden („weil solchen Unternehmen ja bekanntlich die Zukunft gehört“), werden traditionelle Industrieaktien weiter als Kellerkinder der Börse gehandelt. Wenn man sich die entsprechenden Teilindices im MSCI World Index anhand der entsprechenden ETFs (iShares in Euro) ansieht, liegen Wachstumswerte trotz Corona im ersten Halbjahr 6,5% im Plus, Momentumaktien konnten um 3,8% zulegen Qualitätsaktien gaben um 5,8% nach, während Valueaktien um satte 18,6% im Minus liegen.
Faktorindices auf den MSCI World Index im Vergleich
Die bisherige Börsenerholung seit dem Paniktief im März im Gefolge der Corona-Krise wird durch die massiven Kurssteigerungen insbesondere in den Bereichen Technologie und Healthcare also krass überzeichnet, während fast alle anderen Branchen deutlich im negativen Bereich verweilen. Ein Beweis dafür, dass die Anleger insgesamt eher Angst vor einer zweiten Pandemiewelle und den bevorstehenden schlechten Nachrichten aus der Wirtschaft haben und nicht bereit sind, über den Tellerrand der Rezession auf eine bevorstehende Konjunkturerholung zu blicken. Denn dann würden sie eher auf zyklische Aktien setzen, die erfahrungsgemäß von einer wirtschaftlichen Belebung am meisten profitieren.
Das Zeitfenster bleibt also offen, sich langfristig weiter mit konjunktursensitiven Aktien einzudecken, wie sie in den Branchen Chemie, Auto, Industrie, Rohstoffe, Energie, Bau oder Maschinenbau zu finden sind. Denn nach wie vor stimmen die Rahmenbedingungen für antizyklische Engagements in idealer Weise: tiefe Rezession, einbrechende Unternehmensgewinne, Dividendenkürzungen bzw. –ausfälle, negative Wirtschafts- und Unternehmensberichte in der Presse, pessimistische Anleger und expansive Notenbanken. Der einzige Schönheitsfehler besteht darin, dass die bisherige Erholung zu schnell ablief. Die Märkte bleiben daher sehr volatil und temporäre Rückschläge müssen immer einkalkuliert werden. Kein Nachteil ist allerdings, wenn eine wirtschaftliche Erholung nicht schnell sondern eher harzig verläuft. Je weniger Kapital in der Wirtschaft für Investitionen benötigt wird, umso mehr überschüssige Liquidität drängt in Wertpapieranlagen.
In jüngster Zeit wurde ich mehrfach gefragt, warum ich nicht auf Aktien wie Microsoft, Tesla oder die FAANG-Werte (Facebook, Apple, Amazon, Netflix, Google) setze wie andere erfolgreiche Anleger es vormachen. Diese Frage habe ich in den letzten fünfzig Jahren schon oft gehört. Besonders viel Kritik musste ich während der Blütezeit des „Neuen Marktes“ einstecken, weil ich nie Aktien aus diesem Bereich gekauft habe. Ich bin ein Bewunderer von Unternehmern wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg und finde es toll, was sie auf die Beine gestellt haben. Aber ihre Aktien kommen für mich nicht in Betracht, weil sie viel zu hoch bewertet sind. Es ist gefährlich, Wachstumstrends zu extrapolieren, weil niemand weiß, was die Zukunft bringt. Die Börsenfriedhöfe sind voll mit ehemaligen Wachstumswerten.
Für mich hat es sich langfristig immer ausgezahlt, auf niedrig bewertete solide Unternehmen zu setzen, auch wenn deren Wachstumspotentiale aktuell als eher gering eingeschätzt werden. Statt vermeintlich gute Aktien zu kaufen, die heiß begehrt und deshalb in fast jedem Depot prominent vertreten sind, kommt es meines Erachtens darauf an, Aktien gut zu kaufen, d.h. zum richtigen Zeitpunkt. Deshalb investiere ich auch heute eher in BMW mit einem Kurs/Buchwert-Verhältnis von 0,6 als in Tesla, die mit einem KBV von 22,7 bewertet wird.
Tesla gegen BMW
Viel Börsenerfolg wünscht Ihnen Ihr
Peter E. Huber
Oberursel, Anfang Juli 2020